Von «Ersatzgefühle» zu «echten» Gefühlen
Ist das wirklich Trauer oder Wut?

Gefühle sind unser innerer Kompass – und doch reagieren wir im Alltag oft nicht mit dem «echten» Gefühl, sondern ersetzen es mit etwas Erlerntem. In der Transaktionsanalyse werden diese erlernten, nicht ganz passenden Gefühle «Ersatzgefühle» genannt.

Wozu «echte» Gefühle gut sind

Wir Menschen werden mit der Fähigkeit zur Gefühlswahrnehmung geboren. So reagiert unser Körper auf das, was innen und aussen geschieht: Herzschlag, Muskelan-/entspannung, Atmung, ein diffuses «Gut- oder Schlecht-Gestimmt-Sein». Daraus entwickeln sich mit der Zeit benennbare Gefühle wie Trauer, Angst, Wut oder Freude.

Diese Differenzierung und Benennung entstehen jedoch nicht von allein, sondern werden gelernt: Kinder brauchen Erwachsene, die Gefühle wahrnehmen, über die Sprache einordnen und in einen sinnvollen Zusammenhang mit Situationen und Handlungen bringen. So lernen wir, wozu ein Gefühl gut ist und welche Handlung dazu passt.

In der Transaktionsanalyse wird von «echten Gefühlen» gesprochen, wenn sie zur aktuellen Situation passen, spontan entstehen und helfen, Spannung im Körper zu regulieren – sie sind Antworten im Hier und Jetzt auf innere und äussere Stimuli (vgl. English, 2016: S. 100): Angst mobilisiert uns, um Gefahren aus dem Weg zu gehen. Wut dient dazu, Grenzen zu setzen und Veränderungen vorzunehmen. Trauer unterstützt dabei, Etwas zu betrauern und loszulassen. Freude zeigt uns, was uns guttut und bringt uns mit anderen in Verbindung (vgl. Kessel et al., 2021: S. 54-64).

Ich bezeichne echte Gefühle gerne jeweils als inneren Kompass: Sie liefern Informationen, was wichtig ist, und unterstützen angemessene, realitätsbezogene Handlungen. So hat jedes Gefühl seine Funktion und stellt uns dafür Energie zur Verfügung.

Was sind Ersatzgefühle?

Ersatzgefühle sind ein zentrales Konzept der Transaktionsanalyse und wurde durch Fanita English begründet. Sie entstehen dort, wo bestimmte Gefühle in der frühen Umgebung (meist der Familie, dem nahen Umfeld) unerwünscht oder sogar verboten waren (vgl. Schlegel, 2020: S. 338). Ein Kind spürt zwar die körperliche Aktivierung, lernt aber, dass der direkte Ausdruck – etwa von Wut – gefährlich, beschämend oder beziehungsbedrohend ist. Also weicht es auf andere, «akzeptiertere» Gefühle aus.

Ein klassisches Beispiel nach Schlegel: Angenommen, ein Kleinkind wird wütend, weil ihm etwas verboten wird und tritt seinem Vater in den Bauch. Die Mutter ruft: «Stopp! Was fällt dir eigentlich ein! Das macht man nicht!». Da ein Kleinkind zwischen dem Zeigen von Wut und dem Fühlen von Wut keinen Unterschied kennt, wird es sich innerlich verbieten, überhaupt wütend zu sein. Da es in dieser Familie aber beispielsweise erlaubt ist, traurig zu sein, lernt das Kind, Wut in Traurigkeit umzuwandeln. Später zeigt die erwachsene Person in ähnlichen Situationen eher Tränen oder Resignation statt Wut – obwohl eigentlich ihre Grenze überschritten wurde. Dieses Gefühl bezeichnen wir in der Transaktionsanalyse als Ersatzgefühl. Hinzu kommt, dass echte Gefühle aber nicht nur mit anderen Gefühlen, sondern auch durch erlernte Verhaltensmuster ersetzt werden können (= Rackets), die anstelle der authentischen Reaktion treten und auf soziale Akzeptanz und Zuwendung ausgerichtet sind (Beispiele siehe unten).

Ich möchte noch anmerken, dass viele Menschen über den Ausdruck «echte» Gefühle stolpern. Denn streng genommen sind alle Gefühle, die wir in einem Moment erleben, echt – wir spüren sie ja tatsächlich. Wenn in der Transaktionsanalyse von «echten» oder «authentischen» Gefühlen gesprochen wird, ist damit nicht die Echtheit, sondern die Passung gemeint: Gefühle, die sowohl zur aktuellen Situation als auch zur eigenen inneren Wirklichkeit stimmig sind. Ersatzgefühle sind in diesem Sinn ebenfalls real erlebt, nur eben erlernte und oft nicht ganz zur Situation passende Reaktionen, hinter denen ein anderes, unmittelbarer passendes Gefühl verborgen liegt.

Wege, wie Gefühle «ersetzt» werden

Die ursprüngliche Energie, welche durch echte Gefühle zur Verfügung gestellt wird, verschwindet nicht, sondern sucht sich andere Wege, um sich auszudrücken. Typische Formen der «Umleitung» können sein:

  • Durch ein anderes Gefühl (= Ersatzgefühl): Statt Angst zu spüren, reagiert jemand mit Wut. Statt Trauer zuzulassen, zeigt eine Person Gleichgültigkeit.
  • Durch den Körper: Die Energie wird in körperliche Symptome gelenkt wie Kopfweh, Magenprobleme, Enge in der Brust, Schlafstörungen usw.
  • Durch körperliche Empfindungen: Plötzlich auftretender Hunger, Müdigkeit oder Nervosität können ein Ausweichen vor einem echten Gefühl sein.
  • Durch Verhalten: Man tut etwas, statt zu fühlen – (über-)arbeiten, essen, trinken, konsumieren, übermässiger Social Media Konsum, exzessiv Sport treiben.
  • Durch Gedanken: Grübeln, rationalisieren anstelle von direktem Fühlen.

All diese Formen haben gemeinsam, dass sie kurzfristig entlasten und (basierend auf einer kindlichen Logik) zum Erhalt der Beziehungen dienen, langfristig aber die eigentliche Klärung und Regulation blockieren. Fanita English schreibt zudem: «Ersatzgefühle erscheinen künstlich, sie wiederholen sich ständig ohne grosse Veränderungen, und man stellt bei sich ein Unbehagen fest.» (vgl. English, 2016: S. 90). Meine Beobachtung zeigt zudem, dass echte Gefühle eine empathische Reaktion bei mir als Gegenüber auslösen, während diese bei Ersatzgefühle ausbleibt. So können Ersatzgefühle oft übertrieben, dramatisch oder auch erpresserisch wirken. Gleichzeitig bleibt das zugrunde liegende, echte Bedürfnis und Gefühl des anderen nicht greifbar.

Woran du Ersatzgefühle erkennen kannst

Einige typische Merkmale, an denen sich Ersatzgefühle zeigen:

  • Das Gefühl tritt in ähnlichen Situationen immer wieder in gleicher Art auf, fast wie ein Automatismus.
  • Das Gefühl ist stärker oder schwächer, als der Anlass vermuten lässt – oder richtet sich an die «falsche Adresse».
  • Nach dem Gefühlsausdruck wird es innerlich nicht wirklich ruhiger, sondern bleibt ein Rest von Spannung, Unzufriedenheit oder Leere – die Energie kommt nicht ins Fliessen.
  • Andere reagieren irritiert, genervt oder hilflos – und man selbst hat den Eindruck, nicht wirklich verstanden zu werden.

Solche Beobachtungen können ein Hinweis darauf sein, dass hier ein Ersatzgefühl aktiv ist und ein anderes, echtes Gefühl im Hintergrund steht.

Vom Ersatzgefühl zum echten Gefühl

Jedoch gibt es eine gute Nachricht: Ersatzgefühle sind erlernte Muster – und damit auch verlernbar. Der erste Schritt ist erstmals, sich selbst zu beobachten: In welchen Situationen reagiere ich immer wieder gleich? Was spüre ich im Körper? Welche Gedanken laufen dazu ab?

Hilfreiche Fragen können sein:

  • Wenn ich mir vorstelle, ich dürfte alles fühlen – welches Gefühl könnte darunter liegen?
  • Was wäre das «einfachere» oder direktere Gefühl, das ich sonst vermeide?
  • Was bräuchte dieses Gefühl an Ausdruck und Handlung (z. B. weinen, protestieren, um Hilfe bitten, Abschied nehmen)?

In einem sicheren Rahmen – sei es in Therapie, Beratung, Gruppen oder in vertrauten Beziehungen – kann so Schritt für Schritt mehr Zugang zu echten Gefühlen entstehen.

Quellen:

  • English, F. (2016): Gefühle und Ersatzgefühle in Beziehungen. Mörlenbach: Strauss GmbH.

  • Kessel, B., Raeck, H. & Verres, D. (2021): Ressourcenorientierte Transaktionsanalyse. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Schlegel, L. (2020): Die Transaktionale Analyse. Bozen: Printeam.

Verfasst von Eleonora Savides Kursleiterin TA Schweiz